Der kleine Lebensmittelladen mit den seltsamen Öffnungszeiten, der Elektroshop, bei dem man noch Ersatzteile bekommt und das Restaurant um die Ecke mit dem skurrilen (und damit lustigen) Service – viele von Ihnen verschwinden bald für immer. So schade, oder?

Entmutigende Zahlen

Bis Ende 2020 könnten nach Schätzungen der Independant Restaurant Coalition bis zu 85% der sogenannten Mom and Pop Restaurants – also kleine, familiengeführte Betriebe –  in den U.S. für immer schließen, sollte ihnen keine Hilfe zukommen. Die National Restaurant Association ermittelte bereits bis Dezember 2020 110.000 Schließungen in den U.S.

Und in Europa? In U.K. fürchten 72% der Gastronomiebetriebe schließen zu müssen und das restliche Europa rechnet trotz staatlicher Hilfen damit, dass rund ein Drittel der eigenständigen Restaurants nicht wieder öffnen werden. Der Einzelhandel befindet sich in einer ähnlich prekären Situation.

Wie diese Zahlen tatsächlich im Verlauf von 2021 bis 2022 aussehen werden, ist reine Spekulation. Sicher ist aber, dass nur wenige eigenständige Restaurants den Sprung schaffen werden, sich in Virtual Brands oder Ghost Kitchens zu verwandeln. Die meisten wollen das gar nicht, denn das ist nicht der Grund, warum sie jeden morgen aufstehen.

Wir sind Heuchler, wenn es um den Einzelhandel geht

Szenenwechsel. Vor kurzem war ich mit meiner Frau in einem kleinen Laden. Von Werkzeug, Metallwaren, über Farben bis hin zu Küchenzubehör gab es einfach alles. Wir leben seit 10 Jahren in dieser Region, er war uns bis dato nicht aufgefallen. Auf der Suche nach Gärkörben war meine Frau auf das Geschäft gestoßen, hat dort die Körbe bekommen und kam mit strahlenden Augen zurück: „Wenn du da reingehst, kommst du vor 2 Stunden nicht mehr heraus, es ist ein Traum!“. Und tatsächlich: wenn man sich für Kochen und Küchenausstattung interessiert, ist der Laden einfach nicht zu schlagen. Es gibt alles bis hin zu Profizubehör, die Zeit vergeht wie im Flug. Zwei ältere Damen führen den Laden, lassen einen in Ruhe wenn man mag und helfen, wenn man es braucht. Kompetent, freundlich, menschlich.

Objektiv betrachtet kann dieser kleine Laden natürlich nicht mit Amazon, Alibaba und Co mithalten, weder im Preis, noch im Angebot. Und selbst wenn die beiden Damen gerne alles bestellen, Amazon Prime wird wahrscheinlich trotzdem schneller sein. Man muss nicht lange darüber nachdenken, warum es den Laden dennoch gibt und wir uns dort so wohl gefühlt haben: es geht weniger um die Auswahl, sondern mehr um Qualität, um die Freude, Waren anfassen zu können, sie zu drehen und wenden, zu spüren, wie schwer der Topf ist, den man gerade in den Händen hält. Und es geht um Wertschätzung und Austausch. Es geht um den flapsigen Witz, wenn man fragt, ob man eine Auflaufform auch wieder umtauschen kann („Klar, wenn die mit einem Stück Braten drin zurück kommt…“). Es geht darum, auch wenn es sich kitschig anhört, dass die Produkte, die man dort kauft, eine Geschichte erzählen – und wenn es nur von dem kurzen Moment ist, in dem man ganz in diesen Laden abgetaucht ist.

Eigenständige Restaurants stehen vor dem gleichen Problem wie die beiden Damen: im harten Wettbewerb können Sie kaum noch bestehen und sind auf die Kunden angewiesen, denen Service und Individualität wichtig und die bereit sind, dafür (mehr) zu zahlen. Werbung funktioniert hier über Mund-zu-Mund Propaganda, für Werbekampagnen fehlt schlicht das Geld. Entlang der Wertschöpfungskette bleibt bei vielen Restaurants ohnehin kaum mehr hängen, als zum Decken der Kosten nötig ist – und das ist kein Problem durch Covid-19.

„Es ist noch nicht offiziell, aber ich werde wahrscheinlich in 3-4 Monaten schließen. Es macht einfach keinen Sinn mehr“, erzählt mir ein früherer Kollege, nennen wir ihn Tom. Seinen richtigen Namen möchte er hier nicht lesen. „Wir haben zwar genug Gäste, aber es ist ein ewiger Preiskampf, wir arbeiten hier nur noch mit einer minimalen Marge. Covid-19 ist leider nicht die Ursache, hat uns aber den Rest gegeben“. Tom betreibt das Restaurant bereits seit mehreren Jahren, wirklich Geld verdient er damit schon lange nicht mehr. Stellt man seine reinen Arbeitsstunden dem monatlichen Gewinn gegenüber, so verdient er nicht viel mehr als einer seiner Köche. Doch um das Gehalt geht es ihm gar nicht. „Ich habe hier nicht die Einkaufskonditionen von den Großen [Ketten], die noch zusätzlich die Preise drücken können. Ich will das auch gar nicht – ich will Gerichte verkaufen, in denen die Lebensmittel ihren Wert haben. Ich möchte, dass der Service den wir bieten seinen Wert hat“. Dem kann man nichts mehr hinzufügen.

Wir sind falsch abgebogen – mit Absicht.

Egal ob kleine Restaurants oder der Einzelhandel, wir haben ein Problem damit, Produkte und einen guten Service gerecht zu entlohnen. Beispiele gibt es viele: das XXL-Steak darf nicht zu viel kosten (dafür aber bitte mit reichlich Beilagen) und All-you-can-eat bleibt ein Dauerbrenner. Und dann sind da die Kunden, die gerne durch Einkaufstraßen und Malls laufen, sich Waren im Geschäft ansehen, dann aber doch lieber online bestellen. Richtig, das ist eine normale wirtschaftliche Entwicklung, eine Anpassung an Konsumverhalten und Angebot und Nachfrage. Vielleicht ist es der Zeitgeist – oder es wird einem einfach nur schlecht. Denn in diesen Momenten entscheiden wir sprichwörtlich mit den Füßen, wer es schafft oder nicht.

Die Gründe liegen nicht nur in unserem veränderten Konsumverhalten. So ist es in den letzten Jahren zwar so, dass Gehälter und vor allem der Mindestlohn angestiegen sind, aber nicht die steigenden Lebenshaltungskosten kompensieren können. Auch das ist ein Grund dafür, dass weniger Geld zur Verfügung steht, das in diese Geschäfte fließen kann. Wer will Eltern, die am Rande des finanziellen Kollaps stehen, vorwerfen, so günstig wie möglich einzukaufen?

Der Sinn für den tatsächliche Wert einer Leistung, so wie Tom es angesprochen hat, ist uns aber durch alle Gesellschaftsschichten abhandengekommen. Es ist ganz einfach: es macht einfach keinen Sinn, eigenständige Geschäfte zu wollen, wenn der Umsatz an Ihnen vorbeifließt. Es macht keinen Sinn, immer alles verfügbar haben zu müssen und doch auf Nachhaltigkeit zu pochen. Es macht keinen Sinn – nein es ist verlogen – eigenständigen Restaurants und Geschäften nachzuweinen, wenn wir sie langsam aber sicher ausbluten lassen.

Casual dining

Verwaistes Restaurant – Photo by Amber Kipp on Unsplash

Der Verbraucher ist schuld? Das wäre zu einfach

Vor allem eigenständige Restaurants sind besonders von Personalmangel, steigenden Löhnen und Kosten, einer nahezu undurchdringbaren Flut an Vorschriften und dem Mangel an Zeit betroffen, der notwendig ist, um das Geschäft neu auszurichten. Nicht jeder Betrieb kann und will plötzlich zum Lieferdienst, Virtual Brand oder Ghost Kitchen werden. Die Zeiten ändern sich rasant und die Foodservice-Branche muss mithalten.

Es macht für diese Restaurants Sinn, einmal genauer hinzusehen, wie sich der Markt um sie herum verändert und wovon sie schnell profitieren können:

Verändertes Kosumverhalten – Vor und nach Covid-19
Durch die Pandemie haben wir unser Verhalten starkt angepasst; Änderungen gab es allerdings auch schon vor der Pandemie. Weniger auszugehen und auf Lieferdienste zurück zu greifen, war bereits vor Lockdowns und Einschränkungen im Trend. Online-Bestellungen legten im Durchschnitt mit ca. 40% zu. Damit steigt die Notwendigkeit von digitalen Lösungen, um von diesem neuen Liefer- oder Pick-up Geschäft zu profitieren.

Ein frischer Anstrich für das Menu
Wir verändern heute viel schneller als in der Vergangenheit unsere Essgewohnheiten. Spezielle Diäten, Allergien und Unverträglichkeiten, ethische Gründe oder einfach nur der Spaß daran Neues auszuprobieren führt zu einer immer stärkeren Individualisierung des Angebots. Restaurants können von diesem Trend profitieren, wenn Sie ihr Menü anpassen, aber trotzdem authentisch bleiben. Nicht jedem Foodtrend muss man hinterherlaufen: ein thailändisches Panaeng Curry oder eine Buddha-Bowl auf die Karte zu nehmen, macht nur dann Sinn, wenn es zum Restaurant passt. 25% des Menus sollte sich regelmäßig ändern, damit widerkehrende Kunden neue, kulinarische Anreize finden.

Value for Money
Viele Menschen erwarten, 2021 und 2022 weniger Geld zur Verfügung zu haben, die Zahlen hierzu schwanken in den U.S. und Europa zwischen 55-75%. Damit steigt natürlich die Notwendigkeit, Gerichte mit einem guten Preis-Leistungsverhältnis anzubieten. Es geht hierbei auch – aber nicht nur – darum, den Wareneinsatz weiter zu reduzieren. Viele Kunden sind gerne bereit, einen höheren Preis zu bezahlen, wenn die Lebensmittel qualitativ hochwertig, regional oder sogar biologisch sind. Ganz wichtig hierbei: Gutes tun und darüber sprechen. Ein gutes Storytelling kann den Verkauf von Gerichten, auch wenn sie etwas mehr kosten, ordentlich ankurbeln. Kunden verstehen, dass ein Restaurant nicht in kürzester Zeit eine 180° Wende machen kann, aber sie schätzen es, wenn es jemand ehrlich versucht.

Es wäre gefährlich und fahrlässig darauf zu vertrauen, dass es schon irgendwie weitergehen wird – diese Zeit ist sicher vorbei. Es lohnt sich aber jetzt mehr als vorher zu zeigen, dass man noch da ist und dass man mehr zu bieten hat als die Kette um die Ecke; jetzt erst recht.

Vielleicht wollen wir ja doch…

Kleine, eigenständige Restaurants sind nicht tot. Die kleinen Geschäfte sind nicht tot. Noch nicht. Es ist zu früh für einen Nachruf. Doch es liegt an uns, was wir wirklich wollen: dass die Pizza und Pasta immer überall gleich schmeckt, egal ob wir sie in Berlin, New York oder London essen, ob der Burger von der ewig gleichen Sauce zusammengehalten wird, oder ob wir Vielfalt und  Individualität wollen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, der QSR-Bereich und die Systemgastronomie haben ihren Platz und es gibt viel, was wir von ihnen lernen können – vor allem hinsichtlich Flexibilität. Aber es bleibt immer das Gleiche – berechenbar, unpersönlich, langweilig. Wenn wir aber eine vitale, abwechslungsreiche und spannende Restaurantszene und einen florierenden Einzelhandel wollen, dann müssten wir schon gestern angefangen haben, diese Unternehmen zu unterstützen.

Es geht nicht um schwarz und weiß, ganz oder gar nicht. Es geht um ein gesundes, verantwortungsvolles Maß, dass Existenzen von Menschen und deren Mitarbeitern sichert, die viel zu bieten haben.

Glauben Sie mir, wir werden sie erst dann zu schätzen wissen, wenn sie ihr Geschäft für immer geschlossen haben.

 

© Sascha Barby, 2021. All rights reserved. Title photo by kevin turcios on Unsplash

Sascha Barby

Sascha Barby

Sascha's passion for food and the foodservice industry has driven him since he first worked in the kitchen. Projects abroad and the diversity of the industry have only increased his enthusiasm. Started as a Chef in various restaurants in Germany and Canada, completing his skills with an MBA, he now works at Rational AG in marketing.  Sascha lives with his wife and children in Bavaria near Munich.

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